Die Schneekönigin
Drinnen in der großen Stadt, wo so viele Menschen und Häuser sind, lebten zwei Kinder. Sie waren nicht Bruder und Schwester, aber sie waren sich ebenso gut, als wenn sie es gewesen wären. Der Junge hieß Kay, und das Mädchen hieß Gerda. Die Eltern wohnten einander gerade gegenüber in zwei Dachkammern, wo das Dach des einen Nachbarhauses gegen das andere stieß und die Wasserrinne zwischen den Dächern entlanglief; dort war in jedem Haus ein kleines Fenster; man brauchte nur über die Rinne zu schreiten, so konnte man von dem einen Fenster zum anderen gelangen.
Im Sommer konnten die Kinder mit einem Sprunge zueinander gelangen; im Winter mussten sie erst die vielen Treppen herunter und die Treppen hinauf; draußen stob der Schnee. „Das sind die weißen Bienen, die schwärmen“, sagte die Großmutter. „Haben sie auch eine Bienenkönigin?“ fragte der kleine Knabe, denn er wusste, dass unter den wirklichen Bienen eine solche ist.
„Die haben sie!“ sagte die Großmutter. „Sie nennt sich die Schneekönigin und sie fliegt manche Winternacht durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, die sofort zufrieren.“ Wenn sie böse ist, lässt sie kleine Eissplitter durch die Luft wirbeln und wen ein solcher Eissplitter ins Auge trifft, dessen Herz wird kalt und er ist allezeit böse.
„Kann die Schneekönigin hier hereinkommen?“ fragte das kleine Mädchen. „Lass sie nur kommen!“ sagte der Knabe, „dann setze ich sie auf den warmen Ofen und sie schmilzt.“ Aber die Großmutter glättete sein Haar und erzählte andere Geschichten. Am nächsten Tag saßen die Kinder wieder bei der Großmutter, sie halfen ihr beim Wolle wickeln und sie erzählte die schönsten Geschichten. Draußen tobte ein Schneesturm und plötzlich flogen vom Wind die Fenster auf und in der Stube wurde es sofort eisig kalt. Die Kinder sprangen auf, um die Fenster zu schließen, da jammerte Kay: „Au! Es stach mir etwas ins Auge und das Herz tut mir auch weh!“
Gerda sprang zu ihrem Freund, um ihm zu helfen, doch der stieß sie weg: „Lass mich, du dummes Mädchen - ist doch schon längst wieder gut.“ Aber so kannte Gerda ihren Freund gar nicht. Fortan war Kay frech zu ihr, ärgerte sie und holte sie nicht mehr zum Spielen ab. Aber es war das kleine Eissplitterchen, welches ihm in dem Herzen saß; daher kam es auch, dass er die kleine Gerda ärgerte, die ihm von ganzem Herzen gut war.
An einem Wintertag, als es schneite, ging er mit seinem großen Schlitten zum Marktplatz und Gerda lief hinter ihm her, weil sie mit ihm zusammen rodeln wollte. Kay lief jedoch weg, um mit den anderen kecken Jungen auf dem großen Platz schnell wie der Wind durch den Schnee zu sausen. Als sie im besten Spielen waren, kam ein großer Schlitten; der war ganz weiß angestrichen, und darin saß jemand, in einen rauen weißen Pelz gehüllt und mit einer rauen weißen Mütze; der Schlitten fuhr zweimal um den Platz herum, und Kay band seinen kleinen Schlitten schnell daran fest, und nun fuhr er mit. Doch vorne in dem großen Schlitten saß die Schneekönigin, die wollte den kleinen Kay mitnehmen auf ihr Schloss. Gerda jedoch stand auf dem großen Platz und beobachtete, wie Kay mit dem großen Schlitten davonfuhr. Sie lief ihm hinterher und rief: „Kay, Kay wo willst du hin?“ und ihr war ganz ängstlich zumute um ihren Freund. Doch der Schlitten fuhr in Windeseile davon.
Nach einer langen Zeit hielten sie an und die Schneekönigin drehte sich zum kleinen Kay um und sprach: „Komm zu mir auf den großen Schlitten.“ Kay kletterte auf den Kutschbock und nun konnte er sehen, dass große Rentiere den Schlitten zogen. „Friert dich noch?“, fragte sie und küsste Kay auf die Stirn. Oh! Das war kälter als Eis; der Kuss ging ihm gerade hinein bis ins Herz, welches ja doch zur Hälfte ein Eisklumpen war. Doch nun war ihm noch kälter als vorher und die Schneekönigin küsste Kay nochmals, und plötzlich hatte er die kleine Gerda, die Großmutter und alle daheim vergessen.
„Nun bekommst du keine Küsse mehr!“ sagte sie; denn sonst erfrierst du mir noch!“ Die Schneekönigin trieb die Rentiere an und sofort sauste der Schlitten los, so schnell, dass er nach kurzer Zeit flog. Sie flogen über Wälder und Seen, über Meere und Länder; unter ihnen sauste der kalte Wind, die Wölfe heulten, der Schnee knisterte; über demselben flogen die schwarzen, schreienden Krähen dahin; aber hoch oben schien der Mond so groß und klar, und dort betrachtete Kay die lange, lange Winternacht. Aber wie erging es der kleinen Gerda, als Kay nicht zurückkehrte? Wo war er nur geblieben? Niemand wusste es, niemand konnte Bescheid geben. Die kleine Gerda weinte so viel und so lange an diesen langen, dunklen Wintertagen.
Bald darauf kam der Frühling mit wärmerem Sonnenschein und Gerda entschloss sich, Kay zu suchen. Sie lief lange und gelangte an einen Fluss, an dem sie sich erst einmal ausruhen wollte.
Nach kurzer Zeit hüpfte eine Krähe auf Gerda zu und sagte: „Kra! Kra - Gu‘ Tag! Gu‘ Tag“ und fragte, wohin sie so allein in die weite Welt hinausginge und Gerda erzählte der Krähe warum sie unterwegs ist und fragte die Krähe, ob sie Kay nicht gesehen habe.
Und die Krähe nickte ganz bedächtig und sagte: „Das könnte sein! Das könnte sein!“ „Wie? Glaubst du?“ rief das kleine Mädchen und hätte fast die Krähe tot gedrückt: so küsste sie diese „Vernünftig, vernünftig!“ sagte die Krähe. „Ich glaube, ich weiß; ich glaube, es kann sein; der kleine Kay - aber nun hat er dich sicher über der Prinzessin vergessen!“ „Wohnt er bei einer Prinzessin?“ frage Gerda. „Ja, höre!“ „In diesem Königreich, in welchem wir jetzt sitzen, wohnt eine kleine Prinzessin, die ist ganz liebenswürdig und vor nicht allzu langer Zeit kam ein Junge auf einem Schlitten durch das Königreich gefahren, hielt vor dem Schloss an und die kleine Prinzessin, die schon lange einen Freund suchte, freute sich über den Besuch und ließ den Jungen nicht mehr fort. Seitdem lebt der Junge im Schloss und die beiden sind ein Herz und eine Seele.
„Das ist Kay!“ jubelte Gerda. „Oh, dann habe ich ihn gefunden!“ und sie klatschte in die Hände. Die Krähe erzählte ihr, dass seine Freundin im Schloss als Hofkrähe arbeitet und dass sie ihnen ganz sicher helfen könnte ins Schloss zu gelangen, um den kleinen Kay zu suchen. Sie liefen zum Schloss und die Krähe rief ihre Freundin. Die Hofkrähe kannte eine kleine Hintertreppe, die zum Schlafgemach der Prinzessin und ihres Freundes führt und sie schlichen hinein.
Oh, wie Gerdas Herz vor Angst und Sehnsucht pochte, sie wollte ja doch nur wissen, ob es der kleine Kay sei. Ja, er musste es sein! Er würde sicher froh werden, sie zu erblicken. Nun waren sie auf der Treppe, und als sie durch viele Flure und über viele Treppen gelaufen waren, gelangten sie in das Schlafgemach. Dort standen zwei Betten, von denen jedes wie eine Lilie aussah; die eine war weiß, in der lag die Prinzessin; die andere war rot, und in dieser sollte Gerda den kleinen Kay suchen. Oh, das war Kay! Sie rief ganz laut seinen Namen, hielt die Lampe nach ihm hin, er erwachte, drehte den Kopf und und - es war nicht der kleine Kay.
Der Prinz glich ihm nur im Nacken; aber jung und hübsch war er. Und aus dem weißen Lilienblatt blinzelte die Prinzessin hervor und fragte, wer da sei. Da weinte die kleine Gerda und erzählte ihre ganze Geschichte und alles, was die Krähen für sie getan hätten. „Du armes Kind!“ sprach der Prinz und die Prinzessin; und sie belobten die Krähen. Am folgenden Tag bot ihr die Prinzessin an, auf dem Schloss zu bleiben und gute Tage zu genießen; aber sie bat nur um einen kleinen Wagen mit einem Pferd davor und um ein Paar kleine Stiefel; dann wolle sie wieder in die weite Welt hinausfahren und Kay suchen. Und sie erhielt sowohl Stiefel als auch einen Muff; sie wurde niedlich gekleidet, und als sie fort wollte, hielt vor der Tür eine neue Kutsche aus reinem Gold mit Kutscher und Diener. Der Prinz und die Prinzessin selbst halfen ihr in den Wagen und wünschten ihr alles Glück. Sie fuhren durch den dunklen Wald, aber die goldene Kutsche leuchtete so hell wie eine Fackel; das stach den Räubern, die im Wald wohnten, in die Augen. „Das ist Gold, das ist Gold!“ riefen sie, stürzten hervor, hielten die Pferde an, jagten die Diener davon und zogen dann die kleine Gerda aus dem Wagen.
Die Räuber machten ihr Angst und wollten sie sogar mit ihrem Messer kitzeln. Plötzlich sprang ein kleines Räubermädchen in die Mitte und verlangte von den anderen, dass sie ihr Gerda schenkten. Sie wollte eine Freundin haben. „Sie soll mit mir spielen!“ sagte das kleine Räubermädchen. „Sie soll mir ihren Muff, ihr hübsches Kleid geben und bei mir in meinem Bette schlafen.“ Und zu Gerda sagte sie: „Du bist wohl eine Prinzessin?“ „Nein“, sagte Gerda und erzählte ihr alles, was sie erlebt hatte und wie sehr sie den kleinen Kay liebhätte und ihn deshalb suchte.
Unterdessen waren sie in der Räuberhöhle angekommen - groß und dunkel und voller Rauch. Das Räubermädchen betrachtete sie und sagte „Du sollst die Nacht mit mir bei allen meinen kleinen Tieren schlafen“. Sie bekamen zu essen und zu trinken und gingen dann in eine Ecke, wo Stroh und Teppiche lagen. Darüber saßen auf Latten und Stäben mehr als hundert Tauben, die alle zu schlafen schienen, sich aber doch ein wenig drehten, als die beiden kleinen Mädchen kamen. „Die gehören alle mir!“ sagte das kleine Räubermädchen. Sie zeigte ihr auch ein Rentier, welches angebunden und traurig in der Ecke stand. Da sagten die Waldtauben: „Kurre! Kurre! Wir haben den kleinen Kay gesehen. Ein weißes Rentier trug seinen Schlitten; er saß im Wagen der Schneekönigin, welcher dicht über den Wald hinfuhr, als wir im Nest lagen. Kurre! Kurre!“ „Was sagt ihr da oben?“ rief Gerda. „Wohin reiste die Schneekönigin? Wisst ihr etwas davon?“
„Sie reiste wahrscheinlich nach Lappland, denn dort ist immer Schnee und Eis! Frage das Rentier, welches am Strick angebunden steht.“ „Dort ist Eis und Schnee, dort ist es herrlich und gut!“ sagte das Rentier. „Ihr festes Schloss ist oben, gegen den Nordpol zu, auf der Insel, die Spitzbergen genannt wird!“ „O Kay, kleiner Kay!“ seufzte Gerda. Das Räubermädchen fragte das Rentier: „Weißt du, wo Lappland ist?“ „Wer könnte es wohl besser wissen als ich?“ sagte das Tier, und die Augen funkelten ihm im Kopfe. „Dort bin ich geboren und erzogen; dort bin ich auf den Schneefeldernerumgesprungen!“ „Höre!“ sagte das Räubermädchen zu Gerda; „du siehst, alle unsere Mannsleute sind fort, nur die Mutter ist noch hier, und die bleibt; aber gegen Mittag schlummert sie ein wenig; dann werde ich etwas für dich tun!“ Und zum Rentier sagte sie: „Ich will deine Schnur lösen und dir hinaushelfen, damit du nach Lappland laufen kannst; aber du musst tüchtig Beine machen und dieses kleine Mädchen zum Schlosse der Schneekönigin bringen, wo ihr Spielkamerad ist. Du hast wohl gehört!“
Das Räubermädchen hob die kleine Gerda hinaus, gab ihr ihre Pelzstiefel zurück und sprach noch einmal zum Rentier: „Lauf nun! Aber gib auf das kleine Mädchen recht acht!“ Und Gerda streckte die Hände zum Räubermädchen aus und sagte Lebewohl, und dann flog das Rentier über Stock und Stein davon, durch den großen Wald über Sümpfe und Steppen, so schnell es nur konnte. Nach langer, langer Zeit erreichten sie Lappland. Bei einem kleinen Haus hielten sie an; hier war nur eine alte Lappin, die Fisch kochte und das Rentier erzählte Gerdas ganze Geschichte. „Ach, ihr Armen!“ sagte die Lappin; „da habt ihr noch weit zu laufen! Ihr müsst über hundert Meilen weit nach Finnland hinein, denn da wohnt die Schneekönigin auf dem Lande. Ich werde einige Worte auf einen trocknen Stockfisch schreiben, Papier habe ich nicht; den werde ich euch für meine Verwandte die Finnin dort oben mitgeben. Sie kann euch weiter helfen!“
Und als Gerda nun erwärmt worden war und zu essen und zu trinken bekommen hatte, schrieb die Lappin einige Worte auf einen trockenen Stockfisch, bat Gerda, wohl darauf zu achten, half Gerda wieder auf das Rentier, und dieses sprang davon. Und wieder nach einer langen Zeit kamen sie nach Finnland und klopften an die Tür der Finnin. Die Finnin war klein und ganz freundlich. Sofort las sie, was auf dem Stockfisch geschrieben stand. Die Finnin, die sehr klug war, hörte sich die Geschichte der kleinen Gerda an und sprach: „Der kleine Kay ist freilich bei der Schneekönigin und glaubt, es sei der beste Ort in der Welt. Aber das kommt daher, dass er einen Eissplitter in das Auge bekommen hat, der muss heraus, sonst kann und will er nicht wieder nach Hause!“
Zwei Meilen von hier beginnt der Schneekönigin Garten, dahin kannst du das kleine Mädchen tragen, sagte die Finnin zum Rentier. Und dann half sie der kleinen Gerda auf das Rentier, das lief, was es konnte. Es lief, bis es zum Garten der Schneekönigin gelangte. Da setzte es Gerda ab und da stand die arme Gerda ohne Schuhe, ohne Handschuhe - denn die hatte sie bei der Finnin vergessen - mitten in dem fürchterlich, eiskalten Finnland. Sie lief vorwärts, so schnell sie nur konnte und die kleine Gerda ging ganz sicher und frischen Mutes voran und eilte so schnell sie konnte zu der Schneekönigin Schloss. Da geschah es, dass die kleine Gerda durch das große Tor in das Schloss trat und hinein in den großen, leeren, kalten Saal - da erblickte sie Kay. Sie erkannte ihn, sie flog ihm um den Hals, hielt ihn so fest und rief: „Kay! Lieber, kleiner Kay! Da habe ich dich endlich gefunden!“ Aber er saß ganz still, steif und kalt; da weinte die kleine Gerda heiße Tränen, die fielen auf seine Brust, sie drangen in sein Herz und tauten den Eisklumpen auf. Er betrachtete sie und plötzlich erkannte er seine Gerda. Da brach auch Kay in Tränen aus. Er weinte so, dass das Eissplitterchen aus dem Auge schwamm, und nun jubelte er: „Gerda! Liebe, kleine Gerda! Wo bist du so lange gewesen? Und wo bin ich gewesen?“ Und er blickte rings um sich her. „Wie kalt es hier ist! Wie es hier weit und leer ist!“
Und er umarmte seine Gerda, und sie lachte und weinte vor Freude. Das war so herrlich, dass selbst die Eisstücke vor Freude ringsherum tanzten. Und sie fassten einander bei den Händen und wanderten aus dem großen Schloss hinaus. Sie sprachen von der Großmutter und von den Eltern; und wo sie gingen, ruhten die kalten Winde und die Sonne brach hervor. Und als sie an das Gartentor kamen stand das Rentier da und wartete. Es trug Kay und Gerda erst zur Finnin, wo sie sich in der heißen Stube aufwärmten, dann zur Lappin, welche ihnen neue Kleider genäht und ihren Schlitten repariert hatte und dann, geradewegs, auf dem schnellsten Weg nach Hause.
Und das Fest, was dort alle voller Wiedersehensfreude gefeiert haben, könnt Ihr Euch wohl vor-
stellen. Man erzählt sich das wohl drei Tage hintereinander getanzt wurde!
eure Sabine